Gleichzeitig
Kürzlich war ich zu einer anderen Zeit als sonst auf der Straße unterwegs. Es war kurz vor Schulbeginn. Ich sah fürsorgliche Mütter mit Kleinkindern, die dem Kindergarten zustrebten. Grüppchen von Grundschülern, mit riesigen Schulranzen, die den Weg bereits alleine bewältigten. Teenager auf Fahrrädern. Abiturientinnen in fantasievollen Verkleidungen, denn es war gerade "Mottowoche" - die Woche kurz vor den Abiturprüfungen, wo der Kreativität noch einmal grenzenlose Freiheit gelassen wurde.
Ich wurde wehmütig, denn alle diese Phasen hatte ich auch mit meinen beiden Töchtern durchlebt, oder sie dabei beobachtet. Plötzlich hatte ich Sehnsucht nach diesen Zeiten, die alle auf ihre jeweils ganz besondere Weise wunderbar gewesen waren. Und manchmal herausfordernd.
Dabei wurde mir aber auch bewusst, dass ich auch meine jetzige Lebenssituation mag, in der die Kinder bereits ausgezogen sind, auf eigenen Füßen stehen und mich von ferne mit ihren Erlebnissen, Erfahrungen und erwachsenen Gedanken bereichern.
Dann ging ich in meinen Gedanken weiter zurück - in die Zeit bevor ich Kinder hatte, als ich selbst noch studierte, zur Schule ging, Kleinkind war. Ich merkte, dass ich an jeder Lebensphase hänge. Jede hatte ihr ganz eigenes Lebensgefühl gehabt. In jeder hatte es Herausforderungen gegeben, aber auch tiefe Glücksgefühle, die ich am liebsten auf der Stelle noch einmal durchleben würde.
Ich dachte: "Wenn man nur alles gleichzeitig erfahren könnte - jetzt sofort!"
Und dann wurde mir klar: Man kann.
Jeder Moment ist flüchtig, auch der jetzige. Es gibt immer nur den Augenblick. Alle Momente sind gleichwertig und gleich wahr, zu jeder Zeit unseres Lebens. Die Gegenwart ist nicht wahrer als die Vergangenheit.
Ich schließe die Augen und bin kleines Mädchen, junge Mutter, Studentin. Spüre die Neugier, die Ängste, das Glück, das Leid. Rieche, höre, fühle. Meine Freiheit, meine Wahl, zu jeder Zeit.